„One day I will fly“ – Kunstgespräch
Kunstgespräch im Kapitel 8, 23.8.2023 Dr. Petra Schumacher
In dem Gedicht FEDERN BLASEN[i] schreibt Günter Grass: Draußen, ich weiß, bläht die Macht ihre Backen; doch keine Feder, kein Traum wird ihr tanzen. In dem Gedicht von Grass stehen die Federn für Kindheitswünsche und Menschheitsträume, die sich durch keine äußere Macht einschränken lassen. Es geht um Träume und Werte, die man keiner Macht opfert. Die Sehnsucht nach Glück und nach Freiheit taucht neben Gedichten in vielen Liedern, Mythen und in der bildenden Kunst auf und wird mit der Vorstellung des Fliegens verbunden. Federn und Fliegen stehen für Freiheit. Um eben dieses Thema dreht sich auch die Ausstellung. «One day I will fly». Ulrich Schwecke geht mit den hier ausgestellten Werken den Fragen nach einem Leben frei von äußeren Bedrohungen und innerlich einschränkenden Glaubensätzen – vielleicht auch der Frage nach der Freiheit nach dem Tod – nach. Der Begriff der Freiheit umfasst viele Dimensionen. Freiheit kann bedeuten, sich frei bewegen zu können und frei zu reisen, aber auch die Möglichkeit, die eigenen Reaktionen wählen zu können, anstatt ihnen impulsartig folgen zu müssen. Aber die grundlegende Qualität eines Freiheitsgeschehen zeichnet sich meiner Meinung nach dadurch aus, dass jemand aus eigenem Antrieb (also freiwillig) und aus eigener Überzeugung (also bewusst frei zu sein von etwas und frei zu sein für etwas) lebt und handelt. Insbesondere in der Kunst liegt das Potenzial zur Freiheit – die Kunstfreiheit. Künstler sind in ihrer künstlerischen Praxis mit der Wahl ihres Sujets, der künstlerischen Darstellung und dem Ausstellungsrahmen freier als viele Menschen anderer Berufszweige. Und sie sind in ihren Werken frei, bewusst Position zu beziehen. Welche Position und mit welchen Mitteln der Künstler ein Anliegen zum Ausdruck bringt, kann ein Betrachter nicht allein anhand eines Geschmacksurteil („das gefällt mir“ oder „damit kann ich nichts anfangen“) entdecken. Er benötigt Zeit zur Reflexion, Austausch mit anderen, Hintergrundwissen und Informationen, um zu einem tieferen Verständnis des Werkes und der Bedeutung für ihn, den Betrachter, zu kommen. Als Betrachter sind wir also gefordert! Wir müssen nachdenken und uns im gemeinsamen Austausch den Sinn und die Wirkung der hier ausgestellten Federobjekte und Fotoarbeiten erschließen. Dazu lassen Sie uns über folgende vier Schwerpunkte im zeitgenössischen Kunstschaffen nachdenken:-
- die Auseinandersetzung mit der Kunst
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- die Materialität
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- die Präsenz des Werkes im Raum
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- die individuellen und sozialen Prozesse
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- Können wir mit Kreativität einen Weg durch Krisen gehen? Was ist jetzt relevant?
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- Was muss gelernt werden? Welche Schlüsse ziehen wir daraus?
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- Von was und für was wollen wir frei sein?
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- Welche Lösungen müssten wir finden, damit die Federn der Freiheit nicht beim Flug zur Sonne verbrennen?
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- Was kann jeder von uns in sich und zwischen uns erneuern?
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- Wie können wir Verbundenheit kultivieren?
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- Wie können wir uns daran erinnern, was WIR der Welt zu geben haben und uns dahin bewegen?
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- Wie können wir einen Weg finden, das Leben, das wir lieben, JETZT zu leben?
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- Wie können wir das auch für die Menschen, die nach uns kommen, ermöglichen?
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- Kann ich in meinem Alter noch meine Träume umsetzen?
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- Warum wollen wir fliegen? Was beflügelt uns? Sind wir bereit, zu fliegen?
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- Wenn wir von unserem Flug zurückkommen, wie sehen wir die jetzige Gegenwart dann?
[i] FEDERN BLASEN Das war im Mai, als Willy zurücktrat. Ich hatte mit Möwenfedern den sechsten tagsüber mich gezeichnet: ältlich schon und gebraucht, doch immer noch Federn blasend, wie ich als Junge (zur Luftschiffzeit) und auch zuvor, soweit ich mich denke (vorchristlich steinzeitlich) Federn, drei vier zugleich, den Flaum, Wünsche, das Glück liegend laufend geblasen und in Schwebe (ein Menschenalter) gehalten habe. Willy auch. Sein bestaunt langer Atem. Woher er ihn holte. Seit dem Lübecker Pausenhof. Meine Federn – einige waren seine – ermatten. Zufällig liegen sie, wie gewöhnlich. Draußen, ich weiß, bläht die Macht ihre Backen; doch keine Feder, kein Traum wird ihr tanzen.