Einführung zur Ausstellung durch Pastor Hans-Jürgen Jung

Herzlich willkommen, heute Abend hier im Kapitel 8 an der Domsheide 8.
Ich bin Pastor Hans-Jürgen Jung, der Leiter des Ev. Informationszentrums Kapitel 8 – schön, dass Sie heute alle hier sind!
(…)

Im Pressetext dieser Ausstellung heißt es. „Vögel stehen für grenzenlose Freiheit. Der Wunsch, frei
zu sein wie ein Vogel, ist auch eine allzu menschliche Sehnsucht. Doch wovon wollen wir uns eigentlich befreien? Und was hindert uns?“ (…) Die Freiheit und der Käfig – manchmal ist es die primäre Sozialisationsinstanz, die eigene Familie, die zum Käfig werden kann. (…) „Ist es nicht ein Widerspruch, einen Vogel – das Symbol der Freiheit schlechthin – einzusperren?“, fragt Ulrich Schwecke“.


Ja, sage ich, das Freiheitssymbol Vogel, wird oft in Käfigen mit „starre[n] Glaubenssätzen gesperrt.
Und „starre Glaubenssätze und -strukturen“ gibt es in der eigenen Familie, aber auch in der Religion – „Der liebe Gott sieht alles“ steht dort auf den Bändern um den kleinen Vogelkäfig, die dem Vogel, dem „ICH“ im goldenen Käfig die Sicht, ja den Weg nach draußen versperren.
Über diesen Satz „Der liebe Gott sieht alles“ sagte gestern Abend meine Frau, auch von Beruf Pastorin, „das war ein Satz meiner Großmutter“.
Und ich antwortete: „Ich kenne den Satz von meinem Vater in meiner Kindheit.“
Im weiteren Dialog deutete Sie diesen Satz „Der liebe Gott sieht alles“. „Das war ein pädagogisches Instrument, um uns Kinder bei der Stange zu halten. Ich ging sofort in Hab-Acht-Stellung, Gott entgeht nichts von dem, was ich mache.“
Meine Frau und ich teilen die Erfahrung, dass „Der liebe Gott“ gar nicht so lieb ist, wenn er alles sieht.“ Ein solcher Glaube erzeugt Furcht, macht ein schlechtes Gewissen und erzeugt Unfreiheit – (…) Der Satz gab damals der Generation unserer Eltern und Großeltern nach dem 2. Weltkrieg religiöse Sicherheit.
Aber als starrer Glaubenssatz engte er uns Heranwachsende ein und wurde zu einem goldenen Käfig, zum Band, dass die Sicht nach draußen versperrte, oft auch den Abflug aus der Herkunftsfamilie erschwerte.
„One day I will fly“ darin liegt für mich neben aller Sehnsucht auch ein Versprechen: Hat sich diese Sehnsucht nach Befreiung erfüllt? Die Antwort kann sich jede und jeder von uns nur selbst geben!
(…)
In der Bibel kommt gleich in der Genesis im 1. Buch Mose in der Erzählung von Hagar, der Sklavin Abrahams, diese Aussage, dass Gott sieht zum ersten Mal vor. Der Patriarch Abraham schwängert
die Sklavin Hagar und die Hauptfrau Sara, die unfruchtbar ist, drangsaliert die Schwangere so, dass Hagar in die Wüste flieht. (NB: die Motive finden sich im Report der Magd, die Geschiche der
Dienerin oder The Handmaid’s Tale nach dem Roman von Margaret Atwood wieder). Hagar erscheint in der Wüste ein Engel und ihr wird versprochen, dass sie die Stammmutter der Ismaeliten werden soll – auf die sich später einmal arabische Stämme rückbeziehen werden. Und die Verstoßene Hagar ruft Jahwe, den Gott Israels an: „Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.“
„Du bist ein Gott, der mich sieht“ ist hier in dieser biblischen Story ein Freiheitsversprechen. Der Satz ist damit kein goldener Käfig, sondern eher eine verheißungsvolle Aussage, wie eine Vogelfeder. Die Sklavin Hagar wird eines Tages fliegen, wird frei sein.
Und so wie Hagar in ihrer Wüste oder wir in unseren biographischen Käfigen sind – das erzählt diese biblische Story – so sind wir alle von Gott zur Freiheit berufen.
Die alten Bilder und Geschichten wollen keine vernagelten Grundsätze sein – der Geist der Bibel macht lebendig, nur der Buchstabe tötet – deshalb finde ich dort an der Wand die vernagelte Bibel
zugleich mit Federn geschmückt so aussagekräftig. Die Federn dort und auf allen Objekten sind für mich als Christ ein Freiheitssymbol. Und neben der Pfingst-Farbe „rot“ wegen der Flammenzungen vom Himmel in der Erzählung von Pfingsten in Jerusalem ist in der Kunstgeschichte ein VOGEL, wie alle Vögel mit Federn, nämlich die Taube das Symbol des Hl. Geistes und damit von Gott selbst.
„Der liebe Gott, der alles sieht“ steht damit auf der anderen Seite der Käfigtür, nämlich der Freiheit. Gott – biblisch gesehen ist ideologiekritisch – und unterfüttert die Aussage Ihrer Ausstellung: „one day I will fly“.
Dieses Versprechen, eines Tages, nein schon heute im hier und jetzt fliegen zu können, entnehme ich der positiv gewendeten Aussage „Der liebe Gott sieht alles“.
Zwar ist es im Alltag manchmal etwas schwierig mit dem Fliegen, aber zumindest heute hat Ihre Kunst, lieber Ulrich Schwecke, meine Person in der Farbwahl inspiriert, etwas freiheitlicher als in Trauer-
Schwarz aufzutreten. Federleichte, weiße Sneaker für die Wege, bunte Socken wie das Leben und – was jetzt anziehe ein rotes Hemd im Vertrauen auf Gottes Geist mit leicht abgewandelten Ausstellungstitel – „today with him will fly!“

Tun Sie es mir gleich nach!
Danke Ulrich Schwecke für die Inspiration und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Pastor Hans-Jürgen Jung
Kapitel 8 – Evangelisches Informationszentrum
Bremen, 23.08.2023