Das Karma der Wände

Fotoarbeiten

Klimakatastrophe, Finanzkrise, Terrorismus, Krieg, Hunger …  Die Themenliste dessen, was uns an Bedrohungen begegnet und bewegt, ist lang und wächst. Mich interessiert zunehmend, wie diese Themen ästhetisch reflektiert werden können.

Karma (Sanskrit: karman, Pali: kamma; Wirken, Tat) bezeichnet ein Konzept, nach dem jede Handlung eine Wirkung hat. Diese muss sich nicht unbedingt im gegenwärtigen Leben manifestieren, sie kann sich möglicherweise erst in einem zukünftigen Leben zeigen.

Griechische Wut

Athen 2017

Die »Politik der Gläubiger«, insbesondere Deutschlands, hat in Griechenland viel Wut erzeugt. Sie spiegelt sich in den vielen
Graffiti an Wänden in Athen, die wie ein kollektiver Aufschrei gegen eine als erdrückend empfundene Sparpolitik wirken.
Zufällig kam ich mit Mitarbeitern eines Teleunternehmens ins Gespräch. Irgendwann fragten sie woher ich käme. »Aus Deutschland!« antwortete ich.
Die Reaktion war ein minutenlanger Ausbruch:
»M-e-r-k-e-l!!! S-c-h-ä-u-b-l-e!!! …«

Ich habe mich geschämt.

Die innere Sicherheit

Bremen 2016

Ein eher einfaches, leer geräumtes Haus in Bremen-Oberneuland – jede Tür, jedes Fenster, jeder Raum mehrfach gesichert, überwiegend mit selbst gebauten und installierten Sicherungsanlagen. Vor wem wollten sich die ehemaligen Bewohner schützen? Was wollten sie sichern? Was hat sie dazu gebracht – was hat das mit ihnen gemacht? Und was löste das bei anderen aus? Kann Abriegeln Angst nehmen?
Eines Tages bemerkte ich den direkten Nachbarn im Garten und wollte ihn zu den früheren Bewohnern fragen. Als er sah, dass ich auf ihn zuging, lief er davon!

Klagende Mauern

Krakau/Bethlehem 2016

2016 bereiste ich Palästina und Israel sowie Krakau. Auf diesen Reisen begegnete ich verschiedenen Mauerwerken, die mich – trotz ihrer Andersartigkeit – in gleichem Maße erschütterten und bewegten… Die Mauern in Krakau und Israel sind zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen gebaut worden und doch sind sie durch die Ursachen und Wirkungen der Geschichte miteinander verbunden.

Beim Betrachten der »Klagemauern« auf den jüdischen Friedhöfen erschloss sich mir sofort, dass die Opfer bzw. deren Nachkommen nie wieder Vergleichbares erleben wollen. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach Schutz verständlich und Sicherungsmaßnahmen notwendig. Trotzdem stellt sich auch die Frage: Wie geht es weiter? Mit der Mauer wird auch neues Leiden und Unrecht geschaffen – neuer Zorn. Wie kann ein Ausweg aus diesem Kreislauf gelingen? Welche Ursachen können heute für eine bessere friedvollere Zukunft gesetzt werden?

Krakau, Polen

November 2016

Die Aufnahmen entstanden auf zwei jüdischen Friedhöfen in Krakau. Während der faschistischen deutschen Besetzung wurden die Grabmähler zerschlagen und zur Pflasterung der Lagerstraßen in den naheliegenden KZs genutzt. Nach dem Krieg wurden die Fragmente zu einer „Klagemauer“ zusammengesetzt.

Bethlehem, Palästina

Oktober 2016

Die Aufnahmen zeigen Teile der 8 m hohen Mauer in Bethlehem, die als Teil der israelischen Sperranlage Palästina auf einer Länge von insgesamt 760 km von Israel abtrennt. Die Anlage soll terroristische Anschläge verhindern.

Die Bewegungsfreiheit für die palästinensische Bevölkerung wird damit außerordentlich eingeschränkt. Außerdem wird darin eine illegale Landnahme gesehen, da die Absperrungen teilweise im Palästina zugerechneten Gebiet errichtet wurde. Die UNO-Vollversammlung fordert mit der Resolution ES-10/15 den Rückbau in Jerusalem und Umgebung sowie den palästinensischen Gebieten.

Wenn Du wissen willst,
warum die Gegenwart so ist,
schau Dir 
die Vergangenheit an.
Wenn Du wissen willst,
wie die Zukunft wird,
schau Dir die Gegenwart an.

Gefördert durch die Stiftung die Schwelle Beiträge zum Frieden

Lorenz Böllinger

Gedankengefängnisse – Mauern – Theaterkulissen

(…) Was ist los mit uns, mit unserer Gesellschaft? Weltumspannende Beunruhigung, ja Bedrohung: Klimawandel, soziale Spaltung, Rassismus, Nationalismus, neue Völkerwanderungen, Kriege. Ein neues „Unbehagen in der Kultur“, ja Existenzangst haben uns befallen – obwohl es uns doch materiell so gut geht wie noch nie. Anderen aber eben nicht, wir wissen und fühlen das. So wie wir eigentlich um die all dem zugrundliegende, von uns allen politisch mitverantwortete Unvernunft und Selbst-Destruktivität wissen. Wie ist so viel Ausblendung, Verdrängung, Verleugnung möglich? Ist das unausweichliche Apokalypse, Todestrieb?

Zufällige und doch exemplarische Symptome für solche Befunde sehe ich in den verschiedenen Themen einer aktuellen Ausstellung politischer Foto-Kunst in Bremen: Dokumentiert wird zu einen die an extremer mechanischer und elektronischer Einbruchsicherung ablesbare Festungsmentalität eines unbekannten Hauseigentümers. Raffiniert bearbeitete Großfotos von Graffiti an Athener Hausmauern zeugen daneben von der plakatierten Anklage der griechischen Bevölkerung gegen den neoliberalen EU-Imperialismus. Festgehalten sind auch die heftig anklagenden Graffiti der Palästinenser an der Mauer zwischen Israel und Plalästinensern. Schließlich symbolisieren umgekehrt Fotos aus Krakau die Zerstörung jüdischer Kultur durch den Faschismus: die Trümmer von durch die Nazis zerstörten jüdischen Grabsteinen, die zunächst zum Straßenbau in Konzentrationslagern entweiht worden waren, sind in eine Mauer des Gedenkens integriert worden.

Das gemeinsame Unheimliche an diesen Symptomen, hat der Künstler Uli Schwecke als „Karma der Wände“ bezeichnt (Ausstellungskatalog Villa Ichon, Bremen Nov. 2018). Unheimlich, unwiderstehlich und unaufhaltsam wie das Schicksal? Ob das Karma ein „Gutes“ oder „Schlechtes“ wird, hängt ab von der endlosen Verkettung unserer Handlungen und deren Folgen. Schlimmstenfalls in ewigen Zirkeln des Wiederholungszwangs. Wir machen das selbst, sind verantwortlich. Das problem ist nur: es gibt keinen objektiven Wert im Sinne von Gut und Böse, alles ist relativ, aus der jeweiligen Perspektive betrachtet. Und die jeweilige Perspektive in der gehandelt wird und worauf Reaktionen erfolgen ist ein Konstrukt, ein Prozess. Dafür stehen hier anschaulich die Wände.

Wände, Mauern, sind der Inbegriff von Konstrukten im doppelten Sinne: Real, substantiell konstruiert, trennen sie mehr oder weniger funktional – je nach Perspektive – was ein- oder ausgegrenzt werden soll. Jedenfalls sind sie statisch, zementieren sie Zustände, verhindern Kommunikation, Verständigung, dynamische Entwicklung. Die materielle Funktion: Schutz vor Aggression – sei es von außen: die palästinensischen „Terroristen“ werden ebenso von ihren Angriffen „abgehalten“ wie die Einbrecher vom spießigen Eigenheim; … Die Mauer in Israel hat wohl tatsächlich die Anzahl terroristischer Anschläge zu verringern vermocht. Aber um welchen Preis der schwerwiegenden Ausgrenzung und Unterdrückung eines ganzen Volkes? Und hätte es nicht Alternativen gegeben, zum Beispiel eine Friedenslösung? Und werden viele Straffällige durch den Strafvollzug nicht erst recht in die kriminelle Karriere hinein nachsozialisiert? Und substantiell-destruktiv sind die Folgen: das Anrennen gegen die Mauern, endlose Kriege: siehe Israel und die Mauern in Süd-Europa oder USA. Oder die Zerstörung der Persönlichkeit durch Gefangenschaft ebenso wie durch Selbst-Isolierung: siehe das Eigenheim in Bremen.

Die Wände und Mauern sind aber vor allem Gedankengefängnisse, symbolische und paranoide Konstrukte mit vielfältigen politischen, kulturellen und sozialpsychologischen Bedeutungen und Wirkungen. …

Die Inhalte von Wahrnehmungen und Projektionen sind … Resultate komplexer unbewusster Konstruktionsprozesse. Dazu gehört insbesondere die Verleugnung von Teilen der Realität. In permanenter Wechselwirkung stehen individuelle oder kulturelle Grundprägungen, politisch-mediale, von Macht- und ökonomischen Interessen geleitete Vermittlung der Realität und gruppendynamische Prozesse. All diese führen zu selektiver Wahrnehmung und Einebnung der Wahrnehmung im Sinne indivduell-psychischer oder kollektiver Stabilität: der „böse“ Außenfeind festigt die „gute“ Innenwelt. Er wird durch die Zuschreibung des „Bösen“ zum „Behälter“ der eigenen, auf ihn projizierten, ihm sozusagen veräußerten Aggression. Diese wird dann wiederum als Fremdaggression erlebt, missdeutet und bekämpft: ein endloser Zirkel, der paranoide Grundmechanischmus: schön ablesbar an der Eigenheim-Festung in Bremen, ebenso wie an den sprießenden Mauern dieser Welt.

Die je subjektiven Wahrnehmungen und Vorstellungen werden gleichsam auf die Wände projiziert, plakatiert – können beliebig ergänzt oder ausgetauscht werden. Wahrheit und Lüge sind nicht mehr unterscheidbar. … Die Wände gemahnen an das Höhlengleichnis von Platon: die Höhlenbewohner sehen nur die von der Sonne geworfenen Schatten als Pseudorealität und verharren ewig in der Pseudosicherheit ihrer Höhle.

In einer Art Diaektik sind die Wände in der Ausstellung aber auch Provokation im positiven Sinne: Orte des lebendigen Protest, Fanale des Widerstandes gegen eben diese Ausgrenzung. Sei es die von den Krakauer Grabsteinen symbolisierte Anklage gegen die Massenvernichtung, die uns zum Dialog zwingt; sei es der vielfältige Dialog von Anklagen und Verheißungen, die vielfach überlagerten, verwirrenden Botschaften in den Athener Graffiti.
Da ist die verwirrende Ambiuität und Ambivalenz, die von Wänden symbolisiert wird: sowohl von deren Machern als auch von denen, welche die Wände zu Klagemauern machen. Letztere sind nicht notwendig „die Guten“: des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer. Das „Böse“, die Beschwerden und Belastungen, werden nicht in ihrer Subjektivität, Komplexität, Relativität und Prozesshaftigkeit verstanden und eingefühlt. …

Gibt es Auswege aus dieser Aporien? Ja: Einreißen der realen und symbolischen Mauern, der Gedankengefängnisse. Öffnung der Platon’schen Höhle: Durchsichtigmachen der Zusammenhänge, Analyse und Auflösung, „Dekonstruktion“, besagter Konstruktionsprozesse in offensiven Diskursen – Diskursivität überhaupt. Der Freiheitskämpfer kann zum Terroristen werden und umgekehrt. … Es gibt das Potential zu Prozessen. Es gibt ein Tertium zur Polarität der psychischen und sozialen Spaltung. Differenzierung, Ausgleich, Kompromiss. Es lassen sich Brücken der Verständigung bauen, Grenzüberschreitungen organisieren, Mauerdurchbrüche herstellen.

Paragrafen Pantomimen, Partisanen, Nomos-Verlag, 2019, S. 175 ff