Gespräch zwischen Gabriele Schneider und Ulrich Schwecke am 03.02.2023 aus Anlass der Eröffnung der Ausstellung „Poesie der Unschärfe“ im Bridge- und Kulturladen

Gabriele Schneider (Ausstellungsmacherin): Herr Schwecke, Sie fotografieren ja schon lange neben ihrer Tätigkeit als Inhaber einer Werbeagentur. Können Sie etwas zu Ihrem künstlerischen Werdegang als Fotograf sagen? Wie kam das?

Ich fotografiere seit meiner Jugend, habe an der Hochschule für Künste hier in Bremen studiert und bin dann aber im angewandten Bereich der Kunst in der Werbung gelandet. Zeitgleich begann ich Aikido zu praktizieren – das ist eine japanische Kampfkunst, sehr dynamisch und sehr ästhetisch. Ich wollte die besondere Energie des Aikido fotografisch einfangen. Wenn ich klassisch fotografiert hätte – z. B. mit einer 125stel Sekunde – hätte ich eingefrorene Bewegungen gehabt und von der Energie und Dynamik wäre nichts mehr zu sehen gewesen. Deshalb begann ich mit längeren Belichtungszeiten und bewegter Kamera zu experimentieren. Die damals entstandenen Arbeiten stehen am Anfang meiner Serie „Poesie der Unschärfe“.

Gabriele Schneider: Diese Ausstellung hat den Titel „Poesie der Unschärfe“. Im Allgemeinen, wenn ich das Wort Poesie höre, dann denke ich an Dichtung, Rilke, Lyrik … Was verbinden Sie mit Poesie der Unschärfe?

Ich könnte auch sagen, dass es für mich eine Art Meditation ist, die mich verzaubert und die mir einen neuen Blick ermöglicht. Gerhard Richter sagte mal: „Ich verwische, damit alle Teile etwas ineinander rücken. Ich wische vielleicht auch das Zuviel an unwichtiger Informationen aus. Ich verwische, um alles gleich zu machen, alles gleich wichtig und gleich unwichtig …”

Gabriele Schneider: Wie der Weg der Entwicklung von Gegenständlichkeit zur Unschärfe gekommen ist, haben Sie schon gesagt. Was ist Ihnen im künstlerischen Prozess wirklich bedeutsam und wertvoll?

Die Bilder sind abstrakt und ermöglichen dadurch unterschiedliche Zugänge … Durch die Unschärfe entsteht auch die Möglichkeit einer Begegnung. Es gibt einen Satz von Wittgenstein – „Ist das Unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ Ich verstehe ihn so, dass wir akzeptieren sollten, dass es in unser aller Wahrnehmung Unschärfen gibt. Wir alle haben unterschiedliche Hintergründe, Erfahrungen, Identitäten und sehen von daher auch alle unterschiedlich auf die Welt. Die Akzeptanz der Unschärfe ist auch die Akzeptanz, dass es unter- schiedliche Perspektiven gibt. Für einen Dialog ist das hilfreich.

Gabriele Schneider: Wie genau machen Sie das, dass Sie solch eine verschwommene und stimmungsvolle Wirkung erzielen?

Erst mal brauche ich ein Motiv das mich anzieht. Das Zweite ist die Technik, meistens bewege ich die Kamera während der Aufnahme. Lange ist es mir nicht gelungen Berge zu fotografieren. Ich dachte schon, Meer das geht, aber Berge nicht. Aber dann ist dieses Bild vom Latemar (ein Gebirgszug in Südtirol) entstanden. Ich habe während ich gelaufen bin ausgelöst. Entstanden ist eine Bewegung, die an Wellen, an Brandung erinnert. Und das passt ja auch ganz gut, da die Dolomiten aus dem Meer entstanden sind.

Besucherin: Kann man so auch analog fotografieren?

Kann man … auch beim Aikido habe ich zuerst analog fotografiert. Nur – wenn man das tut, dann kann man schnell arm dabei werden. Da hinter den fertigen Bildern Dutzende von Versuchen stehen, würden ziemlich viele Filme vebraucht werden. Die digitale Fotografie bietet hier mehr und preiswertere Möglichkeiten.

Gabriele Schneider: Eine andere Frage, persönlich, haben eigene Gefühle und Eindrücke Ihren künstlerischen Weg beeinflusst?

Nur! Wann denke ich dass ein Bild gut und fertig ist? Also theoretisch lässt sich das nicht entscheiden.

Besucher: Gegenfrage – wie sonst?

Letztendlich ist es immer ein Bauchgefühl … entweder es kribbelt oder es kribbelt nicht.

Gabriele Schneider: Wie suchen Sie die Motive aus?

Normalerweise nehme ich mir keine Themen vor. Die Motive triggern mich. Ich begegne ihnen, lasse mich locken und dann fange ich irgendwie an.

Gabriele Schneider: Wissen Sie was dabei rauskommt, wenn Sie den Finger auf den Auslöser drücken.

Nein, nie. Das kann ich nicht wissen. Wenn ich mit bewegter Kamera fotografiere entstehen wirklich viele Aufnahmen. Nach dem Fotografieren prüfe ich dann, ob überhaupt etwas dabei ist. Oft genug lösche ich alles, komplett – aber manchmal auch nicht.

Gabriele Schneider: Ich habe über Sie gelesen, dass Sie nicht einfach fotografieren, sondern mit der Kamera arbeiten und anschließend arbeiten Sie mit dem Foto bis daraus ein Bild entsteht – im besten künstlerischen Sinne – ist das richtig wiedergegeben?

Jeder Fotograf arbeitet mit der Kamera. Bei mir ist es halt manchmal auch ein bisschen anstrengend, da ich ziemlich rumfuhrwerke, ich muss richtig körperlich ran. Am Rechner treffe ich dann die Auswahl, welches Motiv in Frage kommt, dann korrigiere ich vielleicht noch die Achsen oder Farben. Mehr eigentlich nicht.

Gabriele Schneider: Sie haben in einem Artikel geschrieben die Motive begegnen Ihnen, sie springen sie quasi an und lösen Gedanken und Prozesse aus. Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?

Es ist ein spontaner Prozess. Das Ergebnis ist nicht planbar, es entsteht.

Besucherin: Wenn Sie das Motiv haben. Entsteht dann ein Dialog zwischen Ihnen, der Kamera und dem Motiv?

Ich folge einem Prozess, den der Soziologe Hartmut Rosa vielleicht als Resonanz bezeichnen würde. Es entsteht eine Resonanz zwischen mir und dem Motiv und dann hoffentlich zwischen dem Bild und den BetrachterInnen. Ich würde es nicht Dialog nennen. Aber da ist etwas, was mich zieht, bei dem ich das Gefühl habe, dass es etwas zu sagen hat. Das Motiv hat eine Wahrheit, eine Essenz, um die es für mich geht. Deshalb passt für mich der Begriff Resonanz hier besser.

Besucherin: Dieses Bild hier zum Beispiel, haben Sie die Farbe da reingebracht? Dieses Rot wo kommt das denn her? Ist das Ihre Phantasie?

Das Bild ist auf Sylt entstanden. Es ist manchmal so, dass sich bei Aufnahmen mit bewegter Kamera die Farben intensivieren. Dann setze ich da an und verstärken sie vielleicht auch noch mal.

Gabriele Schneider: Sie selbst sind also manchmal auch überrascht, wie schön das wirkt?

Ja, das stimmt. Ich glaube, das ging oder geht anderen Künstlern genauso. Wenn Farbe schnell und spontan aufgetragen wird, wissen sie auch nicht, ob es gut oder weniger gut wird. Picasso hat ja oft genug ganze Bilder wieder abgewaschen und danach neu gemalt.

Gabriele Schneider: „Die Wirklichkeit ist immer mehr als ein einzelnes Foto zeigen kann“. Das ist ein Zitat von Ihnen. Was meinen Sie damit und was soll damit aufgezeigt werden?

Fotografie steht ja in dem Ruf dokumentarisch zu sein. Das ist sie auch ohne Photoshop und KI nicht. Jeder Ausschnitt vermittelt einen anderen Eindruck. Ich könnte diesen Raum jetzt mit Ihnen allen fotografieren und zeigen, wie viele Menschen heute hierher gekommen sind (worüber ich mich sehr freue). Wenn ich die Kamera aber auf die Wand dahinten richte, ist niemand auf dem Foto und der Eindruck wäre komplett anders.

Interessanterweise hatten viele der Fotos, die wir für ikonisch halten, einen anderen Hintergrund, als wir angenommen haben. Zum Beispiel eines der berühmtesten Bilder aus dem Vietnamkrieg. Der Polizeichef von Saigon erschießt auf offener Straße einen Vietcong. Dieses Bild hatte einen extrem großen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung des Krieges, es trug wesentlich dazu bei, dass die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg so groß wurde. Alle dachten hier würde ein unschuldiger Mensch exekutiert. Ganz so war es aber nicht.

Bei dem Getöteten handelte es sich um jemanden, der zuvor Freunde des Polizeichefs ermordet hatte. Das legitimiert nicht die Hinrichtung – ist aber etwas anderes.

Ähnliches gilt für das berühmte Portrait von Che Guevara. Che schaut mit wehenden Haaren in die Ferne, mit vermeintlich großem revolutionären Pathos. Tatsächlich wurde das Bild bei einer Trauerfeier aufgenommen. Das Heroische im Bild ist vielleicht die Trauer über einen Verlust und keine revolutionäre Vision. In beiden Beispielen wird die Bedeutung von uns hineininterpretiert. Sie hat mit der aufgenommenen Situation wenig zu tun.

Ich habe vor kurzem ein Interview mit einem Kriegsfotografen gelesen, der in der Ukraine tätig war. Er erzählte von einem zerschossenen Auto, dass er fotografiert hatte und dieses Bild wurde publiziert. Das, was nicht zu sehen war, war die Frau, die in dem Auto gesessen hatte und die durch eine Rakete zerfetzt worden war. Das konnte er nicht fotografieren und es wäre auch nicht veröffentlich worden.

Was ist jetzt Wahrheit? Fotografie ist nie objektiv, immer nur ein ganz kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit, wie generell unsere Wahrnehmung. Das, was wir fokussieren, nehmen wir wahr, alles andere sehen wir nicht. Und wenn wir über Wirklichkeit sprechen, dann gehört dazu, dass wir akzeptieren sollten, dass es sich immer um einen Teilaspekt handelt,

ein kleines Detail des Ganzen. Diane Arbus hat mal gesagt: „Ein Foto ist wie das Geheimnis eines Geheimnisses. Je mehr es erzählt, um so weniger erfährt man“.

Besucher: Du hattest anfangs gesagt, dass Deine Bilder „die Poesie der Unschärfe“ ein Stück weit die Gesellschaft abbilden. Heißt das, dass wir als Teil der Gesellschaft die Realität unscharf betrachten oder wie ist das gemeint?

Alles bildet Gesellschaft ab – zumindest ein Stück weit. Und immer sehen wir die Realität auch unscharf, unvollständig. In diese Ausstellung habe ich aber auch Motive aufgenommen, die für mich noch deutlicher die aktuelle politische Situation reflektieren. Zum Beispiel „Ecce homo“. Die Figur steht mehr oder weniger erstarrt und drumherum ist es ziemlich duster. So fühle ich mich in letzter Zeit auch öfter.

Gabriele Schneider: In den Artikeln, die über Sie geschrieben wurden stand auch, dass eine Frau mal vor einem Bild geweint hat, weil es sie so tief berührt hat. Das ist doch sicher eine schöne Anerkennung, oder?

Klar. Ich möchte berühren. Ich glaube diese Reaktion hatte genau etwas mit der Unschärfe zu tun. Unschärfe lädt ein, das Bild mit eigenen Erfahrungen zu vervollständigen. Und die waren in diesem Fall vermutlich sehr emotional. Unschärfe erleichtert diesen Zugang. Das geht mir genauso.

Es gab vor Jahren eine großen Rothko-Ausstellung in Hamburg und die meisten Bilder bestanden, wie bei Rothko üblich, aus zwei Farbflächen, in unterschiedlichen Tönen. So ging es eine ganze Weile und dann war da ein Bild, das mich maximal berührte, es war, als wäre ich vom Donner gerührt. Dieses Bild unterschied sich von den anderen nur dadurch, dass die Farben etwas anders waren. Offenbar hatte es etwas tief in mir angetriggert. Ich weiß nicht, ob das mit einer gegenständlichen Arbeit auch so möglich gewesen wäre.

Besucherin: Ich finde, dass die Phantasie durch die Unschärfe stärker angeregt wird. Man beschäftigt sich viel mehr mit dem Bild.

Genau. Wenn ich diesen Strand klassisch fotografiert hätte, würden Sie vermutlich sagen: Ja okay, hab ich letztens auch so ähnlich gemacht. – So kann keine tiefere Resonanz entstehen. Und Schärfe oder Unschärfe haben auch eine politische Dimension. Der scharfe Blick ist ein Synonym für Beherrschung und Kontrolle.

Letztes Jahr habe ich den Dogenpalast in Venedig besucht. Der Palast ist voll mit riesigen Gemälden, die Dogen in der Mitte, an ihrer Seite, davor oder dahinter Heilige. Die Aussage ist klar, der Doge ist durch Gott legitimiert. Wer sich mit den Dogen anlegt, legt sich mit Gott an und das will natürlich niemand. Diese Bilder sind scharf bis ins letzte Detail. Die Bilder hatten den Zweck Herrschaft zu legitimieren. Unschärfe hätte hier nicht gepasst. Die Unschärfe hätte die implizite Drohung relativiert.

Besucher: Ich möchte noch mal zu dem Titel „Poesie der Unschärfe“ zurückkommen. Unschärfe kann ja auch Angst machen, Unschärfe kann auch Unsicherheit auslösen und ich empfinde augenblicklich die Situation so … es ist schwankender Boden auf dem wir uns bewegen, wir wissen eigentlich nicht so richtig wo’s langgeht, wie’s weitergeht. Deswegen finde ich es nicht eindeutig von der „Poesie der Unschärfe“ zu sprechen oder meinen Sie das so, dass das sozusagen ihr Gegenprogramm ist zu dem, was augenblicklich viele Menschen empfinden?

Ja, beides. Wir haben schon darüber gesprochen, dass es eine Unschärfe gibt, die verzaubert – poetisch verzaubert. Das ist die eine Ebene. Und es gibt eine Unschärfe, die Unsicherheiten hervorrufen kann. Für viele ist das bedrohlich und sie suchen oft nach einfachen Erklärungen, die wieder Sicherheit geben.

Das führt dann zu einer Diskussionskultur, die wir gegenwärtig in Deutschland oder den USA beobachten können. Zwischen den konfligierenden Positionen gibt es keine akzeptierten Unschärfen / Unsicherheiten mehr. Die eigene Meinung ist die Alleinseligmachende und die anderen sollen am Besten verschwinden. Vermutlich ist dieses Verhalten Ausdruck individueller Angst. Mehrdeutigkeiten können nicht mehr akzeptiert werden und dass unterschiedliche Positionen alle recht haben können erscheint sowieso ungeheuerlich.

Ich hatte vorhin schon Wittgenstein zitiert. Die Anerkennung dessen, dass unsere Wahrnehmung ein unscharfes Bild vermittelt, ist Voraussetzung für einen lösungsorientierten Dialog. Ich habe in den letzten Jahren versucht mit unterschiedlichen Ansätzen und Arbeiten diese Entwicklungen zu reflektieren. Die Serie „Where are we now“ versucht genau das zu reflektieren. Was macht das eigentlich mit uns, wenn frühere Gewissheiten beiseite gefegt werden?

Früher waren wir alle Pazifisten und heute kann es gar nicht schnell genug damit gehen, dass die Panzer in die Ukraine kommen? Die Serie „One Day I will Fly“ ist etwas persönlicher, aber umkreist das gleiche Thema. Das sind Objekte, die ich zum Thema Bindung und Lösung aus der Bindung gemacht habe.

Gabriele Schneider: Jemand hat geschrieben: „Ulrich Schwecke fotografiert künstlerisch. Die Ergebnisse sind malerisch“. Mit diesem Zitat möchte ich unser Gespräch abschließen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und die angeregte Diskussion.

Dieses Gespräch wurde aus Anlass der Vernissage der Ausstellung „Poesie der Unschärfe.“ im Bridge- und Kulturladen, Bremen geführt und für diese Veröffentlichung gekürzt und überarbeitet.