Ein Gespräch mit Beate Hoffmann, Bremer Medienbüro
Die Poesie der Unschärfe
Beate Hoffmann: Sie haben vor einigen Jahren den Pariser Friedhof Père Lachaise porträtiert, mit gegenständlichen Fotos. Jetzt gibt es ein abstraktes Bild vom Friedhof von Paleochora auf Kreta. Vom Gegenständlichen zur Unschärfe: Was hat sich in Ihrer Fotografie verändert?
Ulrich Schwecke: Mit dieser Art, unscharf zu fotografieren, versuche ich mehr den Geist, der in den Motiven steckt, deutlich zu machen. Bei den Aufnahmen des kretischen Friedhofs habe ich die Kamera von oben nach unten geschwenkt. So entsteht eine starke Betonung der Senkrechten, der Verbindung zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, also das, was einen Friedhof auch ausmacht. Das heißt nicht, dass ich grundsätzlich gegen gegenständliche Fotografie bin. Die Frage bleibt aber immer, was zeige ich mit dem Foto mehr oder neu, was sonst nicht sichtbar wird.
Hier sind es die vertikalen und horizontalen Linien, die Sie eingefangen haben. In einem anderen Bild, vom Aikido, ist es eine kreisrunde, energiegeladene Bewegung. Bearbeiten Sie die Motive nach?
Hinterher bearbeite ich fast nichts mehr. Beim Aikido wollte ich die Dynamik und Ästhetik zeigen, die in dieser Kampfkunst enthalten sind. Wenn ich das ganz klassisch fotografiere, mit einer 125tel Sekunde, dann wirkt das erstarrt, eingefroren. Deswegen habe ich begonnen, zu experimentieren. Ich wollte die Zeit wieder verflüssigen und zeigen, wie beim Aikido Angreifer und Verteidiger miteinander verschmelzen zu einer gemeinsamen Energie. Da Aikido sehr dynamisch ist, musste ich die Kamera nicht so stark bewegen, das Motiv hat für mich gearbeitet.
Ihr Katalog heißt „Poesie der Unschärfe“. In der Kunst spricht man auch von der „Poesie eines Moments“ oder einem „poetischen Film“, wenn sich etwas der Sprache entzieht.
Poesie heißt vom Wortsinn her „Erschaffung“. Wenn wir von einem poetischen Moment sprechen, meinen wir in der Regel etwas, das uns fasziniert und eine starke Wirkung hat, das sich aber der Alltagssprache entzieht. In diesem Sinne ermöglicht die Unschärfe dem Betrachter, sich ein eigenes Bild zu machen. Wenn etwas gegenständlich fotografiert ist, wird der Rahmen der Interpretationsmöglichkeiten enger. Unschärfe gibt Betrachtern viel mehr Freiheit, sie vollenden das Bild in ihrem Kopf. Das, was in den Köpfen passiert, ist das Entscheidende. Ich habe einmal eine Rothko-Ausstellung besucht, die ich erst nicht sehr spannend fand – und dann war da plötzlich ein Motiv, das mich total berührt hat. Es war nicht viel anders als die anderen Bilder, zwei Farbflächen, die in Beziehung zueinander stehen, mehr nicht. Aber trotzdem hat es mich ins Mark getroffen. Offenbar hat sich dieses Motiv mit Erfahrungen oder Bildern in meinem Unterbewusstsein verbunden und konnte so diese Wucht entfalten. Rothko konnte das nicht planen oder bewusst auslösen, diese Reaktion fand in meinem Kopf statt. Rothko hat nur einen Rahmen gegeben, in dem das möglich wurde.
Aus der Klarinette des Jazz-Musikers, so scheint es, kommen Flammen und leuchtende Wellen.
Genau darum geht es – die Energie des Jazz in einem Foto zu visualisieren. Für die Musiker ist das auch ungewohnt. Als Christian Scott in Bremen spielte, habe ich am Bühnenrand gekniet und mit bewegter Kamera fotografiert. Ich glaube, das fanden sie ziemlich irritierend (lacht).
Gibt es auch Motive, die sich der Poesie der Unschärfe entziehen?
Ja, das passiert sogar sehr oft. Das Ganze ist immer ein Experiment – ich kann vorher nicht sagen, was am Ende dabei herauskommt. Manche Motive sind vielleicht für eine bewegte oder abstrakte Fotografie nicht so gut geeignet. Ich habe mehrere Jahre lang versucht, Berge unscharf zu fotografieren, aber diese Bilder haben keinen neuen Blick eröffnet. Beim letzten Aufenthalt in Südtirol ist mir das dann endlich besser gelungen – hoffe ich.
Können Sie verstehen, dass man erst mal damit beschäftigt ist, zu erkennen, welches Motiv sich hinter der Aufnahme verbirgt, bevor man sich auf das Bild einlässt?
Ja, klar kann ich das verstehen. Ich glaube, es geht hier um zwei mögliche Ansätze in der Kunstbetrachtung. Ich kann fragen „Was will der Künstler mir sagen?“ oder ich kann fragen „Was sagt mir das Bild? Was macht es mit mir?“.Beiden Ansätzen gemeinsam ist, dass sie dann bedeutsam werden, wenn sie sich mit dem aktuellen Geschehen oder der persönlichen Wahrnehmung verbinden lassen. Zum Beispiel schildert das Bild „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault sehr akribisch eine Schiffskatastrophe im 19. Jahrhundert. Géricault hat damals mit seinem Bild zu diesem politischen Skandal Stellung genommen und auch selbst mit seinem Gemälde einen Skandal ausgelöst.Heute hat das Bild insbesondere im Zuge der Flüchtlingsthematik wieder eine sehr aktuelle Bedeutung gewonnen und wird oft in Graffitis zitiert. Und 2017 hat eine Fotokünstlerin das Grundmotiv adaptiert und aktuelle Figuren und Symbole eingefügt, die den gegenwärtigen Zustand der Welt thematisieren. Ob Géricault das ausdrücken wollte? Sein Bild lebt auf alle Fälle weiter und entwickelt eine neue Kraft in den Auseinandersetzungen der Gegenwart.
Zitate auf bekannte Kunstwerke oder politisch motivierte Abbildungen finden Sie auch an Hauswänden. Dazu haben Sie auch verschiedene Serien fotografiert.
Hier interessiert mich das Phänomen der Zeit, die überlagerte Botschaften entstehen lässt: Jemand klebt ein Plakat an die Wand, ein anderer versucht es wieder abzureißen, später wird ein Tag darüber gesprayt und das Wetter nimmt auch noch Einfluss. Manchmal wird sogar sichtbar, welche sozialen Fragen vor zehn oder 20 Jahren relevant waren. Es entsteht ein soziales, kollektives Kunstwerk.
Was halten Sie von dem Satz: „Bilder sollten eine Geschichte haben, die sich von der Situation, die sie darstellen, unterscheiden.“?
Ja, das bringt es gut auf den Punkt. Gerade heute, wo jeder mitseinem Smartphone Bilder machen kann, die wirklich eine gute Qualität haben. Als Künstler sollte man Wege gehen, die etwas Neues oder bisher Verborgenes zeigen. Die Aufgabe von Kunst ist, den Horizont zu erweitern.
Was ist der erste Impuls, auf den Auslöser zu drücken?
Der Impuls ist wie bei jedem anderen Fotografieren auch: Es gibt einen Eindruck und eine Idee von einem Foto. Eigentlich ist zuerst ein Bauchgefühl da, etwas das mich berührt oder zieht.
Passiert Ihnen das öfter: Passanten beobachten Sie beim Fotografieren und fragen sich: „Was hampelt der denn da mit seiner Kamera so herum?“
Ja, manchmal kommen einige und fragen. Sie sehen, dass ich zu einem Motiv arbeite und dabei vielleicht 50 Mal eigentümliche Körperbewegungen ausführe, während ich die Kamera auslöse. Das sieht bestimmt lustig aus.
Was wünschen Sie sich, das Ihre Bilder auslösen?
Ich erlebe es oft, dass Ausstellungsbesucher mit einem Lächeln in den Augen gehen / dass etwas in ihnen zum Funkeln gebracht wird. Das freut mich. Ich erlebe auch, dass Menschen durch manche Arbeiten sehr berührt wurden – einmal hat jemand sogar geweint. Ich habe natürlich keine Idee davon, was da passiert ist. Aber ein Bild ist ja nur dann gut, wenn es jemanden möglichst tief berührt, wenn es Veränderung auslöst – wie das Bild von Rothko in meinem Fall.
Und wenn Besucher einfach nur sagen: „Das Bild finde ich schön.“ Ist das für Sie in Ordnung?
Ja natürlich! Es passiert auch, dass Besucher ein, zwei Jahre später Ausstellungen von mir ansehen und sich sehr genau an ein bestimmtes Bild erinnern – und beim dritten Mal kaufen sie dann das Bild. Dann hat mein Bild offenbar etwas angeregt, das länger wirkt.
Bremen, im November 2017